Definiere: Bildungsferne

Wer sich seine Sorgen und Nöte mit dem Referendariat von der Seele reden will, ist hier richtig. Vielleicht gibt es ja jemanden, der einen guten Rat hat.
Bubu
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Definiere: Bildungsferne

Beitrag von Bubu »

Hallo liebe Referendare und Lehrer,

ich finde euer Forum ganz lustig. :twisted:

Es ist, wie durch ein Fenster zu schauen. Ich kann dabei Menschen beobachten, welche das ausbügeln müssen, was andere in unbedachten Momenten gezeugt haben.

Aber nun zu meiner eigentlichen Frage:

Das Wort Bildungsferne bzw. bildungsferne Schichten/Personen fällt sehr häufig.

Also dachte ich mir: Ihr seid die richtigen Ansprechpartner! :twisted:

Fiktive Person: Kind, männlich, geboren April 1980, DDR/SBZ

Eher schmächtig, kann kein Fußball spielen. Bälle werfen kann es auch nicht. Sportlich eher unterdurchschnittlich.

Sprachfehler, stottert. Dadurch schon Probleme im Kindergarten.

Vater: 8. Klasse Abgang, Bauarbeiter
Mutter: Kind mit 17, Ausbildung abgebrochen, später Hilfsarbeiterin

Schule gezeichnet von psychischem Mobbing aufgrund von Unsportlichkeit, Sprachfehler. Teils durch Lehrer! Aber auch Opfer körperlicher Gewalt.


Kann man hier von Bildungsferne sprechen? Rechtfertigt dies eine "Nullbockeinstellung"? Kriminalität? Muß man Hilfe anbieten?

Bezugspunkt dafür sind ähnliche Vorschläge in den Medien, als Entschuldigungen für viele Dinge die passieren, aber auch die gut gemeinten Ratschläge im Themenstrang "Ausländerproblemklasse".

Viele liebe Grüße

BuBu

Fränzy
Moderator
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Re: Definiere: Bildungsferne

Beitrag von Fränzy »

Hallo,

das Kind dürfte mittlerweile 30 Jahre alt sein und somit nicht mehr schulpflichtig. :mrgreen:

Magst du uns vielleicht mitteilen, was du hier echt suchst oder wissen willst?

Viele Grüße Franzi
שָׁלוֹם

Bubu
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Re: Definiere: Bildungsferne

Beitrag von Bubu »

Fränzy hat geschrieben:Hallo,

das Kind dürfte mittlerweile 30 Jahre alt sein und somit nicht mehr schulpflichtig. :mrgreen:

Magst du uns vielleicht mitteilen, was du hier echt suchst oder wissen willst?

Viele Grüße Franzi
Kann man hier von Bildungsferne sprechen? Rechtfertigt dies eine "Nullbockeinstellung"? Kriminalität? Muß man Hilfe anbieten?

Bezugspunkt dafür sind ähnliche Vorschläge in den Medien, als Entschuldigungen für viele Dinge die passieren, aber auch die gut gemeinten Ratschläge im Themenstrang "Ausländerproblemklasse".
Ich wiederhole mich... 8)

Grüße

BuBu

P.S.

Grundrechenarten funktionieren also... :mrgreen:

AnnaF
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Re: Definiere: Bildungsferne

Beitrag von AnnaF »

Wikipedia sagt:
"Die Bildungsferne beziehungsweise Bildungsnähe taucht in der heutigen Diskussion zum Beispiel im Zusammenhang mit den Detailauswertungen der PISA-Studien auf. Es wird darin deutlich, dass Kinder bildungsferner Eltern deutlich schlechter abschneiden als Kinder von Akademikern.

Bildungsferne in diesem Sinne bedeutet, dass die betreffende Person über keinen oder nur einen niederen Schulabschluss verfügt. Sie verfügt somit über keine Kenntnis des Lehrstoffs, der an Fachhochschulen und Hochschulen unterrichtet wird. Sie kann damit ihren Kindern weder das für das „höhere“ Bildungssystem nötige Wissen vermitteln noch die dort herrschenden Praktiken und Möglichkeiten."


Bildungsferne ist meiner Meinung nach jedoch ein unsinniger Begriff, den man ganz gut durch "Elterliches Desinteresse" ersetzen könnte. Mir stellt sich da die Frage, wieso viele Menschen aus der Generation meiner Eltern höhere Bildungsabschlüsse erreicht haben, und das, obwohl ihre Eltern häufig Bauern waren, die garantiert keine Kenntnis des Lehrstoffes der höheren Schulen hatten.

Außerdem verlangt kein Mensch, dass Eltern, seien sie nun Bauarbeiter oder Architekt, ihren Sprösslingen bis zur Einschulung Stochastik oder fließend Französisch beigebracht haben. Aber jeder kann seinem Kind zunächst mal gewisse grundlegende Regeln menschlichen Verhaltens und Zusammenlebens beibringen.
Außerdem kommt jedes Kind mit einer gehörigen Portion Neugier und auch Lernwillen auf die Welt. Und die gilt es zu erhalten. Ja, es ist nervig, wenn Kinder einem Löcher in den Bauch fragen, und auch als Akademiker weiß man nicht immer die Antwort.
Was tut man in so einem Fall?
Man sagt sicherlich nicht:
"Halt jetzt die Klappe, XY, ich muss eine rauchen / schaue grad fern / bin am chatten!"
Nein man gibt zum hundertsten Mal freundlich Auskunft und zeigt dem Kind, dass man sich über sein Interesse freut. Wenn man keine Ahnung hat, kann man auch als Bauarbeiter im so segensreichen Internet eine Antwort finden. Es dürfte dann auch möglich sein, dem Kind aus einem Kinderbuch was vorzulesen, was ja sehr förderlich sein soll.
Und auch die Mutter ohne Schulabschluss dürfte wissen, dass eine Flasche Wasser, ein Vollkornbrot und ein Apfel ein besseres Pausenbrot abgeben als Cola und Schokoriegel. Vielleicht zieht man sich manchmal den Unmut der Kinder zu, aber mir etwas Konsequenz sollte das zu überstehen sein.

Nur mal eine kleine Anekdote von meinem letzten Zoobesuch:

Ich sah wahnsinnig viele Eltern mit ihren Kindern, die lieber rauchten oder sich mit ihrem Handy beschäftigten, als sich auf die Kinder zu konzentrieren. Dann wurde lamentiert, dass der Zoobesuch ja so teuer sei, vor allem müsste man dann noch 30 Euro fürs Essen ausgeben. Man könnte natürlich auch einfach zuhause ein paar Brote schmieren, etwas Obst einpacken und was zu trinken und von mir aus auch die geliebten Schokokekse. Aber dazu ist man ja zu faul, wahrscheinlich musste man noch einige SMS tippen.
Vor einem Gehege dann der Höhepunkt:
"Mama, was ist das für ein Tier?"
"Woher soll denn ich das wissen?"
Dabei waren überall große Infoschilder. Da wird dann in einfachen Worten alles erklärt, und das kann jeder lesen und verstehen.
Andere Eltern zeigten ihren Kinder die Schilder, man ging gemeinsam hin, größere Kinder lasen selbst und wurde auch gelobt dafür, kleineren wurde gezeigt, wie sie sich auch ohne Text anhand der Abbildungen alleine über das Tier informieren können.

Und das soll jetzt davon abhängen, ob die Eltern bildungsfern sind oder nicht? Ich denke, es ist eine Frage des Interesses am Kind. Klar stoßen Eltern, die nicht so gebildet sind, eher an die Grenzen, wenn es um Wissensvermittlung geht. Aber dafür ist ja auch die Schule da. Man muss eben nur genug Interesse aufbringen, mit dieser auch zusammenzuarbeiten. Aber bei vielen Kindern mit schulischen Problemen haben wir oft Schwierigkeiten, mit den Eltern in Kontakt zu treten bzw. sie zur Mitarbeit an der Lösung der Probleme zu bewegen. Andererseits haben wir Kinder von ausländischen Mitbürgern, die mit wenig Schwierigkeiten die Schule bewältigen, aber dennoch nehmen diese Eltern oft von sich aus Kontakt auf, weil sie großes Interesse am Leistungsstand ihrer Kinder haben und auch bei Schwierigkeiten arbeiten sie intensiv mit. Sie sprechen kaum Deutsch und dürften ihren Kindern also auch keine Hilfe sein, dennoch machen ihre Kinder Abitur. Kann ja eigentlich nicht sein.

Das soll jetzt nicht heißen, dass solche Kinder bildungsferner Eltern nicht jede Hilfe bekommen sollten, denn sie können ja am wenigsten dafür. Dennoch kommen mir immer mehr Zweifel, dass die Schule bzw. der Staat tatsächlich jegliche Defizite elterlicher Erziehung soweit kompensieren kann, dass wir zu einer wirklichen Chancengleichheit gelangen, denn wo Eltern alles boykottieren, jegliche Mitarbeit verweigern und sich schlicht weigern, ihre Erziehungspflicht zu erfüllen, da ist staatlich verordnete Chancengleichheit nicht zu erreichen.

Bubu
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Registriert: 09.08.2010, 13:56:34

Re: Definiere: Bildungsferne

Beitrag von Bubu »

Hallo AnnaF,

danke für deine Antwort.

Wikipedia finde ich allerdings selber... :P

Deine Ausführungen beschreiben auch Eltern mit Migrationshintergrund. Beispielsweise Vietnamesen in Sachsen oder Brandenburg, die selber kaum deutsch sprechen, keine oder kaum Bildungsabschlüsse besitzen, sehr oft im Niedriglohnbereich arbeiten, oder sich und ihre Kinder irgendwie anders durchbringen. Komischerweise zählen diese Kinder, die 2008 ihr ABI machten, mit zu den besten und erreichten im Durchschnitt bessere Leistungen und höhere Abschlüße als ihre autochthonen Mitschüler. Diese "neuen" Einwanderer und ihre Leistungen kann man erst in den letzten Jahre bewundern, da vor 1989 Gastarbeiter (z.B. Vietnamesen) bei Schwangerschaft entweder abtreiben oder ausreisen mußten. Daher sind diese Kinder alle nach 1989 geboren.

Aber wieso ist Bildungsferne auch hier und in den Medien eine Entschuldigung für Verhalten, Kriminalität oder Nullbock?

Viele Grüße

BuBu

Freidenker
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Re: Definiere: Bildungsferne

Beitrag von Freidenker »

Mein Maler, der zur Zeit mein Haus renoviert, ist absolut bildungsfern, macht aber Top-Arbeit. -Er braucht mit mir ja auch nicht die letzte "Rienzi-Aufführung" erörtern. Er macht seinen Job aber gut und ist mit sich zufrieden.

Ich denke, dass man den Begriff "bildungsfern" nicht so negativ sehen sollte. Schlimmer wäre
"gefühlsfern" oder "menschlichkeitsfern".

Ich denke "bildungsfern" ist ein künstlicher und negativbehafteter Begriff für Pädagogen, die es nicht wahrhaben wollen, dass die meisten (bildungsfernen) Menschen "draußen" ordentliches leisten, auch (oder gerade?) ohne Bildung. 8)
Ihr kommuniziert mit dem künftigen Bildungsminister !

Stefan24
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Re: Definiere: Bildungsferne

Beitrag von Stefan24 »

Wieso ist dein Malermeister ungebildete?
Er versteht sein Handwerk doch - also verfügt er über Bildung. In seinem Metier eben.

Alles eine Frage der Definition.
StR seit 09/09. Individualist seit Geburt.
Eigene Meinung schon immer.

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