Wie ist das Referendariat?

Wer sich seine Sorgen und Nöte mit dem Referendariat von der Seele reden will, ist hier richtig. Vielleicht gibt es ja jemanden, der einen guten Rat hat.
Piccola
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Re: Wie ist das Referendariat?

Beitrag von Piccola »

teach_er hat geschrieben:Liebe MitforistInnen,

ich arbeite seit Jahren an einem Gymnasium in Sachsen und das ganz ohne 2. Staatsexamen. Das Referendariat habe ich aus persönlichen Gründen nicht zu Ende gemacht.

Nachdem wir auch Referendare an der Schule haben und ich sehe, wie es ihnen geht, bin ich ganz froh drum, das 2. StEx nicht zu haben. (Auch wenn mir dadurch die Verbeamtung flöten gegangen ist).

Ich stelle daher mal ein paar Aussagen als Diskussionsgrundlage in den Raum (ich behaupte nicht, dass die Aussagen immer und überall zutreffen):

Das Referendariat ...
... ist ein sehr formalisiertes Konstrukt
... bremst Innovation
... demotiviert statt motiviert
... dient eher der Auslese als der Ausbildung
... hat guten Unterricht für die Schüler nur als zweitrangiges Ziel
... ist ziemlich widersprüchlich
... ist unnötig aufgebläht
... beinhaltet zu wenig Kontrollen der Ausbilder
... lässt Evaluationen nicht zu

und zu guter letzt
... ist alles andere als alternativlos!
Jeder erlebt das Referendariat anders. Und ich finde es super, dass Du bei der Auflistung Deines Fazits selbstkritisch bleibst und vorausschickst, dass nicht alle Deiner Aussagen immer und überall zutreffen.
Du äußerst Deine Meinung und beanspruchst nicht für Dich die Weisheit für Dich gepachtet zu haben.

Ich persönlich stimme einigen von Deinen Punkten zu.
Mein Referendariat liegt aber schon 12 Jahre zurück. Doch auch heute bekomme ich einiges mit bei unseren Referendaren.

Ich habe bisher (!) auch den Eindruck gewonnen, dass z.B. Quereinsteiger immer viel authentischer und stressresistenter sind als Lehrer, die das Referendariat gemacht haben.
Bei letzterer Gruppe trifft das natürlich nicht auf alle zu, aber auf einige. Ich denke, gewisse "Selbstläuferstrukturen" im Referendariat können zu ungewollten psychologisch gesehen toxischen Situationen führen, die junge Menschen tatsächlich für den Rest ihres Lebens prägen können.
In solche Situationen kommt jemand, der das Referendariat nicht macht, eher seltener.

Das Referendariat an sich (bzw. das, was es "planmäßig" sein soll), ist eine gar nicht einmal so schlechte Ausbildung.
Es kann allerdings (muss aber nicht) aufgrund der vielen Menschen, die da mitmischen, für einige zum Höllentrip werden. Passiert so etwas, hat es einen ähnlichen Effekt wie ein "Brechen" der Persönlichkeit eines Menschen. Das alles ist auf keinen Fall vorsätzlich so gewollt. Und es spielen viele Faktoren eine Rolle.
Wer z.B. ein stabiles privates Umfeld hat und zudem insgesamt ein gesundes Selbstwertgefühl, der wird bei einer Verkettung von ungünstigen Umständen im Rahmen seines Referendariats eher weniger wahrscheinlich in eine "Psychomühle" geraten als jemand, der das Genannte nicht besitzt.

Das trifft natürlich auch auf jede Ausbildung und auch auf jedes Berufsleben zu.
Dennoch ist es ungünstiger während des Referendariats in einer instabilen Lebenslage befindlich zu sein als im Berufsleben. Denn im ersteren Fall kann das im schlimmsten Fall zu einem Scheitern führen. Und das Referendariat ist eine "Ausnahmesituation".

Dabei hat es gar nichts mit dem eigentlichen Referendariat an sich zu tun, sondern es ist einfach ein Selbstläufer in dieser wichtigen Zeit. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Referendariat eine Zeit ist, in der man ununterbrochen Leistung zeigen muss und in der gefühlt nichts schief laufen darf (Dauerstress, Dauerdruck, den jeder anders verarbeitet).
Wer ausgerechnet in einer schwierigen Lebensphase das Referendariat macht, kann sich durch diesen Ausbildungsabschnitt noch stärker belastet fühlen als jemand, der gerade einigermaßen im Reinen ist mit seinem restlichen Leben.

Wir sind alle nur Menschen. Niemand kann immer gleich gut sein oder gleich glücklich oder immer gesund.

Ich finde es wichtig, dass man bei Referendaren (wie auch bei Schülern) stets den Gesamtmenschen im Blick hat und nicht nur seine Position als Auszubildender, der entweder geeignet ist oder nicht.
Das ist eine Einstellung, die kontraproduktiv und zudem unfair ist.

Ich betreue immer wieder Referendare und habe die Erfahrung gemacht, dass ein vorschnelles "In-Schubladen-Stecken" vonseiten der Ausbilder oder Ausbildungslehrer tatsächlich zu schlechteren Leistungen bei Referendaren führen können. Ganz besonders trifft dies auf Menschen zu, die Perfektionisten sind.
Es ist unsere Aufgabe die Referendare konstruktiv zu begleiten. Und wie bei den Schülern auch ist es dabei wichtig, Menschen auch dann zu unterstützen, wenn sie nicht so schnell wie wir es wollen in eine produktive Schiene hineingelangen. Wir tendieren dazu aus Bequemlichkeit Menschen, die nicht so funktionieren, wie wir es wollen, als ungeeignet abzustempeln.

Einzelnen Referendaren, die sich anders entwickeln als die Mehrheit ihresgleichen das Gefühl zu vermitteln, sie seien "fehl am Platz" kann zum Selbstläufer werden und im schlimmsten Fall zu einem Scheitern führen. Denn auch, wenn niemand "es" ausspricht, so spüren Referendare so etwas (wie jeder Mensch so etwas spürt).

Ein Kollege und ich haben vor zwei Jahren diese Erfahrung gemacht: Während sämtliche Leute eine Referendarin aufgegeben hatten, setzten wir uns für sie ein und kümmerten uns um sie, indem wir ihr das Gefühl geben konnten, dass mit ihr alles stimmt und dass sie Unterstützung hat.
Sie hat es geschafft. Sie machte eine Verlängerung und schloss ihr Referendariat erfolgreich mit guten Noten ab. Heute ist sie glücklich als Junglehrerin.
Sie bedankte sich nicht nur bei uns, sondern auch bei unserem damaligen Schulleiter dafür, dass man an sie geglaubt hatte. Das habe ihr die Kraft gegeben zu zeigen, was sie wirklich kann (sie war kurz davor alles zu schmeißen, weil sie schon selbst daran glaubte, dass sie ungeeignet wäre und weil (fast) alle anderen das auch so sahen... eine gefährliche Abwärtsspirale).

Ich weiß, ich schweife vom Thema ab.
Aber gerade, was die Schicksale von Einzelnen angeht, hatte ich bisher immer den starken Glauben daran, dass auf bestimmte Menschen das Verhalten anderer einen stärkeren Einfluss hat als auf andere.

Und es kostet wirklich nicht viel Kraft an seine Schüler und Referendare zu glauben und sie auch dann zu unterstützen, wenn andere sie schon längst aufgegeben haben.
Wenn jemand wirklich nicht passt für den Beruf, dann wird er / sie das Referendariat abbrechen oder nach dem Referendariat etwas anderes machen. Diese Unterschiede zu erkennen, sind möglich, wenn man sich mit dem einzelnen Menschen befasst. Leider werden aber nicht selten alle über einen Kamm geschoren und in die gleiche Schublade "ungeeignet" gesteckt. Das muss nicht sein. Für diejenigen, die wirklich nicht gut geeignet sind, wird es z.B. irgendwann einen Punkt geben, an dem sie von sich aus einen anderen Kurs einschlagen. Und auch das sollte von uns unterstützt werden. Jeder Mensch hat Respekt und Wertschätzung verdient. Und genau das fehlt an einigen Schulen gegenüber den Referendaren (und manchmal leider auch gegenüber den Schülern).
Es klappt vieles so viel besser, wenn auf menschlicher Ebene mehr Potential ausgeschöpft wird. Stress hin oder her: Wir arbeiten alle hart. Aber es genügt nur ein kleines Umdenken, mehr muss man nicht investieren.

Ich für meinen Teil wurde bis heute immer wieder darin bestätigt, dass "Menschlichkeit" in der Ausbildung für einige Menschentypen wichtig ist, um zeigen zu können, was sie wirklich können. Und um zu lernen sich zu ändern und mehr an sich zu glauben als sich durch das, was andere über sie denken, in eine Richtung zu begeben, die zum Scheitern führen wird - emotional oder beruflich. Auch Referendare, die gegebenenfalls merken, dass sie doch nicht für den Beruf geeignet sind, verdienen unseren Respekt und unsere Wertschätzung. Denn es ist keine Schande. Dafür können sie etwas anderes viel, viel besser als wir. Und es führt zu nichts, wenn man sie despektierlich behandelt (kommt leider, leider nicht selten vor).

Jeder einzelne von uns ist mitverantwortlich dafür, wie das "System" Referendariat sich gestaltet für unsere Referendare.

Sorry für den langen Text, der auch ein wenig am Thema vorbei geht.

Aber das musste ich jetzt mal loswerden zum Thema Referendariat.

Euch allen ein schönes Wochenende!

Liebe Grüße

Piccola
Zuletzt geändert von Piccola am 21.10.2017, 12:26:30, insgesamt 1-mal geändert.
Mens sana in corpore sano :-)

Almadeloca
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Re: Wie ist das Referendariat?

Beitrag von Almadeloca »

Hallo teach_er,

ich habe mein Referendariat nicht gut in Erinnerung.

... man wird gezwungen, den aktuellen pädagogischen Hype mitzumachen
... kritsches Denken wird gefordert, aber bestraft bei Umsetzung
... keine Zusammenarbeit auf Augenhöhe: der Referendar ist IMMER in der Beweis-/Bringpflicht

Menschen im Referendariat sind keine 16/17 mehr. Sie haben tw. familiäre und finanzielle Verpflichtungen, ein 1. Staatsexamen gemeistert und sind heute mehr denn je gefordert, alles zu tun, um später ihren Platz (wo auch immer) einzunehmen.

Dinge, die von uns gegenüber der Schülerschaft gefordert wurden, wurden bei uns missachtet
... intransparente Bewertungsschemen
... Achtung der Persönlichkeit/Individualität

Allen, die im Ref. an ihre psychischen Grenzen kommen, sei gesagt:
1. 4 gewinnt
2. es ist NUR die Eintrittskarte ins Berufsleben
3. wird Lehrpersonal gebraucht, nimmt man euch auch mit ner 4. Wird kein Personal gesucht, nützt euch auch die 1,0 nichts.

Lebt euer Leben, zahlt euer BAföG zurück. Kümmert euch um euch: geht in die Sauna, unternehmt was mit Freunden und nickt freundlich, wenn die Seminartanten den neuesten pädagogischen Furz anpreisen.

MarlboroMan84
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Re: Wie ist das Referendariat?

Beitrag von MarlboroMan84 »

Almadeloca hat geschrieben: ... man wird gezwungen, den aktuellen pädagogischen Hype mitzumachen

Was konkret?

Bender5
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Registriert: 22.05.2013, 13:51:34

Re: Wie ist das Referendariat?

Beitrag von Bender5 »

Ich übernehme mal deine Äußerungen und antworte da aus meiner Sichtweise drauf:
Wie immer sind das sehr subjektive Ansichten, jeder erlebt das Referendariat anders und so ziemlich jeder ist froh, wenn seine Ausbildung auch endlich mal ein Ende hat.

Das Referendariat ...
... ist ein sehr formalisiertes Konstrukt -> Ja stimmt, muss/sollte aber auch in weiten Teilen mMn so sein

... bremst Innovation -> bei mir eher das Gegenteil. Ich hätte viele Dinge nie ausprobiert ohne das Ref (habe vorher auch ohne Ref z.B. als Vertretungslehrer gearbeitet). Einige Dinge die ich im Ref ausprobiert und kennen gelernt habe nutze ich auch heute noch, andere habe ich verworfen, weil sie für mich nichts taugen. Meine Fachleiter haben das sogar gut gefunden "mal was Neues" auszuprobieren.

... demotiviert statt motiviert -> je nach Situation und FL sicherlich manchmal, vor allem wenn die Arbeit zwischen den Lehrproben scheinbar nie aufhört und nach der einen schon die nächste LP ansteht. Bei gutem FL aber auch wenn er einem nach einem halben Jahr sagt worin man sich stark verbessert hat und was man für das kommende Jahr noch angehen sollte.

... dient eher der Auslese als der Ausbildung -> Hat mein Studium in sehr viel stärkerem Maße gemacht (Naturwissenschaften), natürlich muss man aber auch in irgendeiner Form schauen, ob der Bewerber für den Beruf geeignet ist...

... hat guten Unterricht für die Schüler nur als zweitrangiges Ziel -> nö

... ist ziemlich widersprüchlich -> Teilweise von FL zu FL habe ich das erlebt. Beim gleichen FL wusste ich allerdings wo ich dran bin und was erwartet wird

... ist unnötig aufgebläht -> Es wurde bereits auf 1,5 Jahre in vielen Bundesländern verkürzt. Schwerpunkte könnten anders liegen hin zu mehr "unbewertete" Zeit beim Ausbilder zu weniger benoteten LP

... beinhaltet zu wenig Kontrollen der Ausbilder -> Da stimme ich zum Teil zu. Hier würde ich mir auch "weniger Macht" für den einzelnen FL wünschen. Realisierung ist da aber auch nicht ganz einfach

... lässt Evaluationen nicht zu -> in einem meiner Fachseminare hat das richtig gut geklappt. Da wurde wirklich an konkreten Unterrichtsstunden zu den Problemen die wir hatten gearbeitet.
z.B. wenn man gesagt hat ich habe immer Probleme bei der Überleitung/Gelenkstelle vom Einstieg zur Erarbeitung, dann gabs FS zu Gelenkstellen

und zu guter letzt
... ist alles andere als alternativlos! -> hier nicht, Quereinsteiger nimmt mein Bundesland gar nicht


-> Ich bin jetzt absolut kein Fanboy der das Ref nochmal machen möchte. Ich bin sogar sehr froh, dass meine Ausbildung rum ist.
Trotzdem bin ich durch mein Ref besser geworden, fachwissenschaftlich natürlich nicht, aber meine Stunden vorm Ref als Vertretungslehrer würde ich heute teilweise wirklich als miserabel bezeichnen, weil ich dann doch ein bisschen was aus dem Ref mitgenommen habe wie man es besser machen kann.
Fairerweise muss ich sagen, dass mein Ref schon ein bisschen her ist und viele Dinge mit der Erfahrung sich natürlich nochmals gebessert haben und ich sagen ausprobiert habe, die ich im Ref dann doch nicht gemacht hätte (vllt zu deinem Punkt Innovation und formale Strukturen).

Mein Fazit dazu: Dürfte ich entscheiden wer an meiner Schule unterrichtet, würde da niemand ohne das richtige Studium der zu unterrichtenden Fächer und ohne Ref unterrichten...

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