"Jedem das Seine" - normale Redewendung oder nicht?

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nele

Re: "Jedem das Seine" - normale Redewendung oder nicht?

Beitrag von nele »

Suum cuique - jedem das seine, ist nun einmal ein diskursives Problem, weil man sich damit in ein ganzes Bündel von Traditionen stellt; das kann die ciceronische Plato-Rezeption sein, ein Rekurs auf eine Bach-Kantate, eine Anspielung auf Friedrich III./I. aber eben auch auf das dritte Reich und auf Buchenwald.

Wenn man eine Anspielung macht, wird sie am wahrscheinlichsten als Anspielung auf das Wissen verstanden, das in der zeitgenössischen Kultur am bekanntesten ist. Das ist nun einmal der Missbrauch durch die Naziwitzbolde. Deshalb wäre ich bei allem Bewußtsein um den weiteren Bedeutungsgehalt des Zitates sehr vorsichtig in der Anwendung.

Nele

P.S. "Dämonen endlich schlafen lassen" ist die denkbar dümmste Strategie im Umgang mit der Geschichte. Man muss die Dämonen mit starken Leuchtlampen bestrahlen, bis die letzte Hautschwarte durchleuchtet und verstanden ist. Dann verlieren sie ihre Macht und dann kann man mit ihnen leben.

Cassandra
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Re: "Jedem das Seine" - normale Redewendung oder nicht?

Beitrag von Cassandra »

Ich stimme dir voll zu!
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Lysander
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Re: "Jedem das Seine" - normale Redewendung oder nicht?

Beitrag von Lysander »

Cassandra hat geschrieben: Der konkrete Fall verhielt sich so, dass eine andere Userin nicht meiner Meinung war und mir das schrieb, mit dem Beisatz "Jedem das Seine."
Ich habe sie gefragt, ob sie überhaupt wisse, dass das am Tor von Buchenwald prangte. Sie warf mir dann hin, dass ich ihr Faschismus unterstelle und sie sich das verbitte.

- Mein Hinweis wurde daraufhin von der Moderation entfernt, ihr Satz darf stehen bleiben. Andere User griffen mich daraufhin weiter an, dass ich mich nicht so anstellen solle bzw. wie unmöglich es sei, hier solche Tendenzen zu unterstellen und den Spruch gäbe es ja schon viel länger als das NS-Regime.
Ich bin da zwiegespalten.
Man MUSS dieses Zitat nicht primär im NS-Kontext sehen. Und der öffentliche Hinweis darauf kann daher auch als "Nazikeule" empfunden werden, vor allem dann wenn man diese gar nicht im Hinterkopf hatte.

Andererseits KANN das natürlich ein entsprechender "Angriff" sein, wenn es eindeutig in diesem Kontext gemeint ist.

Unsere Sprache hat eine längere Tradition als die 12 Jahre braunen Terrors. Wenn wir alle Aussprüche künftig auf möglichen Missbrauch durch die Nazis hin überprüfen würden, wäre es fast nicht mehr möglich, ungezwungen zu kommunizieren.

Das Bewusstsein über die Verbechen der Nazis und ihre Diktion ist zweifelsfrei wichtig.
Ebenso wichtig ist es aber, im konkreten Fall zwischen den jeweiligen Situationen und den sonstigen Verwendungen bestimmter Redewendungen zu unterscheiden und sie dann auch nur im konkreten (!) Kontext aufzufassen und zu verstehen.

Unsere Gegenwart und unsere Zukunft kann und darf nicht primär durch die 12 unseligen Jahre deutscher Geschichte determiniert werden.
Gruß
Lysander

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Cassandra
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Re: "Jedem das Seine" - normale Redewendung oder nicht?

Beitrag von Cassandra »

Da hast du auch Recht, Lysander. Im konkreten Fall bei "Jedem das Seine" sehe ich das jedoch nicht möglich, den unbedarft zu verwenden (s. Fränzys Ausführungen) - und Unwissenheit darf hier nicht "schützen". Allein, weil der Satz schon zig mal für Kampagnen verwendet werden wollte und jedes Mal zurück genommen werden musste:
http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/w ... h-1.379745
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Lysander
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Re: "Jedem das Seine" - normale Redewendung oder nicht?

Beitrag von Lysander »

Ich habe Fränzys Link gelesen. Das hier dürfte der Kern sein:
Trotz juristischer, journalistischer und akademischer Bemühungen um eine kritische Nutzung von "Jedem das Seine" hat sich bis heute kein öffentlicher Konsens über den Umgang mit der belasteten Wendung etabliert. In der Diskussion über den weiteren Gebrauch stehen sich vielmehr zwei Positionen gegenüber. Für die Gegner ist die Instrumentalisierung als Todesformel das Maß der Dinge, dem sie auch die Jahrtausende alte Bedeutungsgeschichte unterordnen: "das Motto ist verdorben dadurch, dass es das KZ Buchenwald assoziiert." Es sei daher "unmöglich", so Salomon Korn, den Ausdruck zu benutzen, "solange es noch einen einzigen Menschen gebe, der bei der Redewendung an Buchenwald denke". Befürworter der Weiterverwendung sehen es genau andersherum und ordnen den Missbrauch der zeitübergreifenden Bedeutung unter: "Wer eine Gerechtigkeitsformel, die fast 2500 Jahre alt ist, schon durch die kurzzeitige Pervertierung durch ein Terrorregime als nicht mehr zitierfähig ansieht", argumentiert Dietmar von der Pfordten, "gestattet dessen geistigem Zerstörungswerk fortzuwirken, anstatt offensiv und aufklärend gegen diese Pervertierung vorzugehen."
Quelle: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/s ... eine?p=all

Ursprüngliche Bedeutung oder pervertierte Verwendung - das ist hier die Frage.
Gruß
Lysander

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CatherineDuquesne
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Re: "Jedem das Seine" - normale Redewendung oder nicht?

Beitrag von CatherineDuquesne »

Hm, sie hätte sich vielleicht auf Friedrich II. beziehen können, das mit der Facon und so ;).

Im Ernst:
Es ist richtig, dass man sich als Deutscher nicht nur auf das 1000jährige Reich (das zum Glück ja doch nicht 1000 Jahre gedauert hat) reduzieren lassen sollte. Andererseits...gibt es da ein paar Dinge, die mit unendlichem Leid verbunden sind und man schon alleine aus Rücksicht auf die Opfer, ihre Nachfahren und den Tatbestand an sich manche Dinge vermeiden sollte.

Eine Position.
Andere Position:

Was nicht so lange zurückliegt, das ist greifbarer, das bleibt eher im Gedächtnis bzw. wird von jenem abgerufen. Wer denkt da an die alten Griechen, wenn Hitler näher dran ist an der eigenen Zeit? Wenn man da umso mehr mitbekommt? Und deswegen hat man gleich eine Assoziation, die mit eben jener Zeit zu tun hat.

Weitere Position
Für mich persönlich ist "Jedem das Seine" schon allein vom Klang her abwertend. Weswegen ich das so bis heute nicht verwendet habe. Und mich selbst eher auf den alten Fritz beziehen würde. Was für mich ein wenig gemäßigter klingt. Und zudem wohl doch politisch korrekt ist ;).

Was mir dazu aber noch einfällt, ist diese Sache: Hier hätte die Moderation (und das sage ich trotz grünem Namens hier) besonnener sein sollen. Prüfen und für Ruhe sorgen.
"Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren." B. Brecht

Lysander
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Re: "Jedem das Seine" - normale Redewendung oder nicht?

Beitrag von Lysander »

CatherineDuquesne hat geschrieben:Hm, sie hätte sich vielleicht auf Friedrich II. beziehen können, das mit der Facon und so ;).

Im Ernst:
Es ist richtig, dass man sich als Deutscher nicht nur auf das 1000jährige Reich (das zum Glück ja doch nicht 1000 Jahre gedauert hat) reduzieren lassen sollte. Andererseits...gibt es da ein paar Dinge, die mit unendlichem Leid verbunden sind und man schon alleine aus Rücksicht auf die Opfer, ihre Nachfahren und den Tatbestand an sich manche Dinge vermeiden sollte.

Eine Position.
Richtig - vor allem dann, wenn ich weiß, dass ich es mit potenziellen Opfern zu tun habe.
In einem Forum oder unter Gleichaltrigen (ausgehend von U40) ist dies jedoch eher unwahrscheinlich.
Und dann wäre da im Extremfall noch die Frage nach Opfern anderer Formen von Gewalt (und dem entsprechenden Einfluss auf unseren Sprachgebrauch).
Andere Position:

Was nicht so lange zurückliegt, das ist greifbarer, das bleibt eher im Gedächtnis bzw. wird von jenem abgerufen. Wer denkt da an die alten Griechen, wenn Hitler näher dran ist an der eigenen Zeit? Wenn man da umso mehr mitbekommt? Und deswegen hat man gleich eine Assoziation, die mit eben jener Zeit zu tun hat.
Das ist ebenfalls vom Prinzip her richtig. Jetzt bin ich aber mal etwas arrogant und behaupte, dass viele Menschen mit Ausnahme der NS-Zeit und der unmittelbaren Gegenwart über keine oder allenfalls beschränkte Geschichtskenntnisse (vor allem, was Zusammenhänge und deren Beurteilung angeht) verfügen. Ferner kann man sich schnell in der komfortablen Annahme einer überlegenen moralischen Position wähnen, wenn man mit der "Nazi-Keule" kommt, zumal dies ja auch als politisch korrekt angesehen wird.
Zugespitzt formuliert: Leider ist das Schicksal derer, die sich differenziert auszudrücken versuchen, letztlich durch die Einfalt ihres Gegenübers gerichtet zu werden.
Weitere Position
Für mich persönlich ist "Jedem das Seine" schon allein vom Klang her abwertend. Weswegen ich das so bis heute nicht verwendet habe. Und mich selbst eher auf den alten Fritz beziehen würde. Was für mich ein wenig gemäßigter klingt. Und zudem wohl doch politisch korrekt ist ;).
Das kann ich nachvollziehen, zumal es ja oft auch in einem abwertenden, scheinbar die abweichende Meinung des Gegenübers akzeptierendem Ton gesagt wird. Und auf möglicherweise geheuchelte Toleranz kann glaube ich jeder verzichten.
Was mir dazu aber noch einfällt, ist diese Sache: Hier hätte die Moderation (und das sage ich trotz grünem Namens hier) besonnener sein sollen. Prüfen und für Ruhe sorgen.
Meinst Du jetzt hier oder dort?
Gruß
Lysander

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